Tagtäglich erkennen wir Personen wieder, die uns vorher schon einmal begegnet sind. Ihre Erkennung erfolgt ohne Überlegung, ist blitzschnell und meist richtig. Personen, die wir uns gut eingeprägt haben, erkennen wir sogar bereits anhand weniger grober Merkmale, z.B. der Silhouette, Gangart oder Stimme.
Diese Fähigkeit können wir auch für die Erkennung ähnlicher Situationen bei Entscheidungen im Lawinengelände nutzen. Die fünf typischen Lawinenprobleme wurden mit diesem Ziel definiert. Sie beschreiben typische Situationen, wie sie im Gelände vorkommen und sowohl Lawinenwarner*innen als auch Wintersportler*innen bei ihrer Beurteilung der Lawinengefahr unterstützen können. Sie ergänzen die Beschreibung der Gefahrenstufe sowie der Gefahrenstellen (Exposition und Höhe) und stellen den dritten Teil der Informationspyramide dar.
Die folgenden Definitionen beinhalten eine Beschreibung des Problems inklusive der zu erwartenden Lawinenarten, der charakteristischen räumlichen Verteilung und der Lage der Schwachschichten innerhalb der Schneedecke. Zudem wird auf die Art des Auslösemechanismus, typische Dauer der Gefährdung und abschließende Ratschläge zur Bewegung im Gelände eingegangen. Das Hauptaugenmerk liegt hier auf Wintersportler*innen, die sich in lawinengefährdetem Gebiet bewegen. Zusätzlich kann die Beschreibung der Lawinenprobleme auch für Lawinenkommissionen hilfreich sein.
Merkmale
Das Problem entsteht durch aktuelle Schneefälle oder kurz zuvor gefallenen Neuschnee. Der Haupteinflussfaktor ist die kritische Neuschneemenge, die von mehreren Faktoren, wie zum Beispiel Temperatur oder Eigenschaften der alten Schneeoberfläche abhängt.
Zu erwartende Lawinenarten
Räumliche Verteilung
Meist weit verbreitet und in allen Expositionen.
Position der Schwachschicht in der Schneedecke
Meist am Übergang zur alten Schneeoberfläche, manchmal aber auch innerhalb der Neuschneeschichten und manchmal auch tiefer in der Altschneedecke.
Auslösemechanismus
Dauer
Während des Schneefalls bis einige Tage danach.
Problemerkennung im Gelände
Das Neuschneeproblem ist relativ einfach zu erkennen. Beachte die kritische Neuschneemenge und frische Lawinen. Beachte, dass kleine Wetterwechsel (z.B. Änderung der Luftfeuchte) die Neuschneebedingungen markant ändern können.
Verhaltensempfehlung
Merkmale
Das Problem entsteht durch windverfrachteten Schnee. Triebschnee kann sowohl mit als auch ohne gleichzeitigen Schneefall entstehen.
Zu erwartende Lawinenarten
Räumliche Verteilung
Ausgesprochen unregelmäßig verteilt; tendenziell in windabgewandten Bereichen (Lee), in Rinnen, Mulden, hinter Geländekanten und anderen windberuhigten Flächen. Häufiger über der Waldgrenze als darunter.
Position der Schwachschicht in der Schneedecke
Meist am Übergang zur alten Schneeoberfläche oder innerhalb des Triebschnees (Schichtung durch Änderungen in der Windgeschwindigkeit während einer Sturmperiode) und gelegentlich auch tiefer in der Altschneedecke.
Auslösemechanismus
Zusatzbelastung durch den Triebschnee auf eine Schwachschicht. Triebschnee bildet ein Schneebrett, das speziell zur Bruchausbreitung neigt.
Dauer
Triebschnee kann sehr rasch entstehen. Das Problem dauert üblicherweise während der Verfrachtung bis einige Tage nach dem letzten Windeinfluss (abhängig vom Schneedeckenaufbau).
Problemerkennung im Gelände
Das Triebschneeproblem ist mit Übung und bei guten Sichtverhältnissen relativ leicht zu erkennen, außer der Triebschnee wurde von Neuschnee überlagert. Beachte Windzeichen und lokalisiere Triebschneeablagerungen. Typische Hinweise: Triebschneeablagerungen, Rissbildung, WUMM-Geräusche, frische Lawinen. Oft ist es aber schwierig, das Alter des Triebschnees abzuschätzen und Triebschnee muss zudem nicht zwingend ein Problem sein (zum Beispiel bei fehlender Schwachschicht).
Verhaltensempfehlung
Vermeide Triebschneeablagerungen in steilem Gelände, insbesondere an Übergängen von wenig zu viel Schnee und von weichem zu hartem Schnee.
Merkmale
Das Problem entsteht durch vorhandene Schwachschichten innerhalb der Altschneedecke. Typische Schwachschichten sind eingeschneiter Oberflächenreif, Tiefenreif (auch Becherkristalle oder „Schwimmschnee“ genannt) oder kantige Kristalle.
Zu erwartende Lawinenarten
Räumliche Verteilung
Das Lawinenproblem kann sowohl großflächig verteilt, als auch kleinräumig konzentriert sein. Es ist in allen Expositionen möglich, aber häufiger in schattigen, eher windgeschützten Hängen.
Position der Schwachschicht in der Schneedecke
Irgendwo im Altschnee, oft tief in der Schneedecke. Wenn die Schwachschicht von mächtigen, stabileren Schichten überdeckt ist, wird die Auslösung schwieriger.
Auslösemechanismus
Bruch einer Schwachschicht im Altschnee, wenn die Zusatzlast die Festigkeit der Schwachschicht überschreitet.
Dauer
Wochen bis Monate; teilweise während des gesamten Winters.
Problemerkennung im Gelände
Das Altschneeproblem ist äußerst schwierig zu erkennen. Zeichen für Instabilität (z.B. WUMM-Geräusche) sind typisch, aber nicht zwingend vorhanden. Schneedeckentests können helfen, die Schwachschichten zu erkennen. Informationen zur Schneedeckenentwicklung und Informationen im Lawinenlagebericht/Lawinenbulletin sind wichtig. Die Bruchfortpflanzungen erfolgen üblicherweise über weite Strecken. Fernauslösungen sind ebenfalls möglich.
Verhaltensempfehlung
Meiden von großen Steilhängen und Zurückhaltung. Beachte den Witterungsverlauf und die Schneedeckenentwicklung in einem Gebiet. Besondere Vorsicht in schneearmen Bereichen und Übergängen von schneearm zu schneereich.
Das Altschneeproblem ist eine Hauptursache von tödlichen Lawinenunfällen bei Wintersportler*innen.
Merkmale
Das Problem entsteht durch eine zunehmende Schwächung der Schneedecke durch Wassereintrag, entweder durch Schmelze oder Regen.
Zu erwartende Lawinenarten
Räumliche Verteilung
Wenn die Sonneneinstrahlung die Hauptursache des Problems ist, hängt die Verbreitung vor allem von der Höhenlage und der Exposition ab. Wenn Regen die Ursache ist, sind alle Expositionen betroffen.
Position der Schwachschicht in der Schneedecke
Irgendwo in der Schneedecke.
Auslösemechanismus
Dauer
Stunden bis Tage
Rascher Stabilitätsverlust möglich
Kritisch ist das erste Eindringen von Wasser tiefer in die Schneedecke, sobald die Schneedecke 0 °C-isotherm ist.
Spontane Lawinenabgänge sind am Nachmittag wahrscheinlicher als am Morgen (außer wenn Regen die Hauptursache des Problems ist).
Problemerkennung im Gelände
Das Nassschneeproblem ist meist einfach zu erkennen. Beginnender Regen, Bildung von Schneeballen oder Schneerollen, kleine nasse Schneebrett- oder Lockerschneelawinen kündigen oft nasse Lawinenaktivität an. Tiefes Einsinken in die Schneedecke ist ebenfalls ein Zeichen zunehmender Durchfeuchtung/-nässung.
Verhaltensempfehlung
Gibt es an der Schneeoberfläche eine Schmelzharschkruste, sind die Bedingungen am Morgen nach einer kalten, klaren Nächten meist günstig. Nach warmen, bedeckten Nächten tritt das Problem oft bereits am Morgen auf. Bei Regen auf eine trockene Schneedecke tritt das Problem meist unmittelbar auf. Gutes Timing und eine gute Tourenplanung sind entscheidend. Beachte Lawinenauslaufbereiche.
Merkmale
Die gesamte Schneedecke gleitet auf glattem Untergrund wie zum Beispiel Grashängen oder glatten Felsenzonen ab. Hohe Aktivität von Gleitschneelawinen ist typischerweise verbunden mit einer mächtigen Schneedecke mit wenigen oder keinen Schwachschichten. Gleitschneelawinen können sowohl bei einer trockenen, kalten als auch bei einer nassen, 0°C-isothermen Schneedecke auftreten. Den Abgangszeitpunkt von Gleitschneelawinen vorherzusagen ist kaum möglich, obwohl sie sich meist durch Gleitschneerisse (sogenannte Fischmäuler) ankündigen.
Zu erwartende Lawinenarten
Räumliche Verteilung
Vor allem auf glattem Untergrund. In allen Expositionen, aber öfter an Südhängen.
Position der Schwachschicht in der Schneedecke
Am Übergang der Schneedecke zum Boden
Auslösemechanismus
Gleitschneelawinen werden aufgrund des Reibungsverlusts auf einer feucht-nassen Schicht zwischen Schneedecke und Boden ausgelöst.
Dauer
Tage bis Monate, Auslösungen während des gesamten Winters möglich. Auslösungen können zu jeder Tages- oder Nachtzeit auftreten. Im Frühling treten sie meist im späteren Tagesverlauf auf.
Problemerkennung im Gelände
Gleitschneerisse (Fischmäuler) sind zwar einfach zu erkennen, der Auslösezeitpunkt kann jedoch so gut wie nicht vorhergesagt werden. Auslösungen sind auch ohne die Bildung von Gleitschneerissen möglich.
Verhaltensempfehlung
Halte dich nicht unterhalb von Gleitschneerissen auf.